Ein Gastbeitrag von Henrik Hillenbrand
Wurzeln
Ich trat in die Pedale, schlängelte mich durch Touristen und Passanten am
Fluss entlang, hatte den Kopf voller Gedanken aus kunsttheoretischen
Seminaren und literarischen Kolloquien an der Kunsthochschule und
erinnerte mich an ein Gespräch vom gestrigen Abend mit meiner Partnerin.
Sie fragte sich, wie es beruflich für sie weitergehen würde, falls wir Eltern
werden würden. Sie hatte die Mütter vor Augen, die nur noch halbtags
arbeiteten, deren Karrieren stagnierten. Ob ich mir das zutrauen würde,
Vater zu sein, ob ich darauf Lust hätte, mich um ein Kind zu kümmern? Ich
sagte ja, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, was das bedeutete.
Von klein auf begeisterten mich Kunst, Literatur und Musik. Meine
Eltern gingen mit meinem Bruder und mir in Museen, besuchten Konzerte
und Lesungen. Für sie waren Kunst und Literatur eine Erweiterung der Welt,
ein Zugang zu Höherem. Bei mir lösten Kunst, Literatur und Musik starke
Empfindungen aus. Mich faszinierte die Vorstellung, sie durch mein
Schaffen auch bei anderen erzeugen zu können. Ich studierte Design und
Literarisches Schreiben, nahm an Ausstellungen teil und schrieb
Erzählungen. Kunst und Literatur galten mir stets als das Höchste, das
Sinnstiftende. Empfand ich die Gegenwart als profan und nüchtern, wärmte
ich mich an Gedanken an mein nächstes Schreibvorhaben. Wie passte ein
Kind in dieses Bild? Die Möglichkeit des Vaterseins nährte Zweifel am Ideal
des Künstlertums. Inzwischen studierte ich schon zum dritten Mal und ich
fragte mich, ob es mich meinem Wunsch, als Schreibender zu leben,
näherbrachte. Ich spürte den Druck des Alters. Nun war ich schon Anfang
dreißig und wähnte mich noch immer in einem Stadium der Vorbereitung.
Ich wollte Wirksamkeit in der Welt erfahren, handeln, die dämpfende Hülle
der Institution durchstechen. Für ein Kind zu sorgen, schien mir
unvergleichlich bedeutungsvoll. Es war greifbar, würde mein Leben
grundlegend verändern und bereichern. Kunst als etwas Höheres, die
Gegenwart Überflügelndes war eine Illusion, ahnte ich. Doch woher kam
diese Vorstellung überhaupt? Ich glaube, unsere Gesellschaft verklärt das
Künstlerdasein und mit diesem romantisierenden Bild bin ich
aufgewachsen. Die Produktion von Kunst fand für mich in einem Jenseits
statt, in der Vergangenheit oder in einem kaum zugänglichen Raum
namens Erfolg. Dass Künstlerinnen und Künstler, Schriftstellerinnen und
Schriftsteller gemeinsam mit dem Rest der Gesellschaft zusammenleben
und von ihrer Arbeit und deren Nebenschauplätzen leben können, dass ihre
Existenz irdisch ist, davon habe ich als Kind und Jugendlicher wenig
erfahren. Ich weiß nicht, welche Motive sich hinter dieser Abgrenzung zum
Künstlertum verbergen. Ist es der Wunsch nach Verehrung, nach
jemandem, der das ausdrücken kann, was vielen auszudrücken schwer
fällt? Wird Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Künstlerinnen und
Künstlern ein leidendes Dasein unterstellt, weil es als Beweis für den Preis
der Freiheit gilt, als Bestätigung eines täglichen Verzichts? Ich finde, in
diesem Umgang mit Künstlertum verbirgt sich eine Form der Ausgrenzung.
Als ich als Jugendlicher den Wunsch äußerte, beruflich künstlerisch tätig zu
werden, seufzten viele, runzelten die Stirn, rieten mir ab. Künstler zu werden
sei nur wenigen vorbehalten. Warum sollte gerade ich es werden? Ein
Irdischer wie sie?
Das Genie
Die Vorstellungen eines Künstlertums, das sich an einer Genieästhetik
orientiert, werden nicht nur in einer breiten Gesellschaft vertreten, sie
werden auch von den Schriftstellerinnen und Schriftstellern gelebt.
In Sterben schreibt Karl Ove Knausgård über sein Dasein als Autor und
dreifacher Vater in Stockholm. Die Familie finanziert sich, mehr schlecht als
recht, durch sein Schreiben. Bei einem Spaziergang mit seiner Frau und
seinen Kindern durch einen Park blickt er auf die anderen Bewohnerinnen
und Bewohner. Sie würden entweder in der Bank, im Krankenhaus, in ITFirmen
oder in der Stadtverwaltung, am Theater oder in der Universität
arbeiten, unterstellt er. Sie führten, anders als er, ein geordnetes Dasein,
deren Zentrum die Familie bildete. Das Leiden in seinem Leben entstünde
aus dem Ehrgeiz, etwas Einzigartiges schreiben zu wollen. Klar liebte er
seine Frau und seine Kinder, aber Sinn und Wahrheit fände er nur in der
Kunst und der Literatur. Dafür wäre er bereit alles zu ertragen, was mit dem
Schreiben einhergeht. Er und seine Familie wären fähig, ein glückliches
Leben wie die anderen zu führen, doch er will es nicht.
Die Idee des einsamen, genialen Schreibers ist alt. In Briefe an einen
jungen Dichter rät Rilke seinem Briefpartner, sich einzugestehen, ob er
sterben müsse, wenn es ihm versagt würde zu schreiben. Das wäre die
Voraussetzung, überhaupt schreiben zu dürfen. Der Schaffende müsse eine
Welt für sich sein.
Mario Vargas Llosa gebraucht in Briefe an einen jungen
Schriftsteller das Bild des Bandwurms für das Verhältnis eines Autors zu
seinem Schreiben. Alles, was er täte, diene der Befriedigung des Wesens in
seinem Innern. Letztlich schriebe er nicht, um zu leben, sondern lebe, um
zu schreiben.
Fordert der Weg als Schriftsteller, sich und seine Familie völlig dem
Schreiben zu unterwerfen? Gehen Liebe und die Suche nach Sinn, nach
Wahrheit nicht Hand in Hand? Ich möchte mein Schreiben als Teil meines
familiären Lebens betreiben, nicht als meinen exklusiven Kampf, meine
Therapie, mein Vergnügen. Oft befürchte ich, mein Schreiben könnte eine
Belastung für meine Familie sein, so lange es keinen ökonomischen Erfolg
bringt. Andere, die statt meiner Preise gewinnen, beneide ich, anstatt es
ihnen großherzig zu gönnen. Bin ich ein Egoist?
Vater werden
Mein Sohn kommt im Februar zur Welt, kurz vor dem Ausbruch der Corona-
Pandemie in Deutschland. Zur selben Zeit soll ich meine literarische
Diplomarbeit abgeben. Ich stelle einen Antrag auf Verlängerung, in dem ich
formuliere, ich müsse mich meinen Erziehungsaufgaben widmen. Meine
Professorin lacht, bevor sie ihre Unterschrift unter meinen Antrag setzt und
fragt: Wer erzieht hier wen?
Das Zusammensein mit meinem Sohn begreife ich als ein
Angleichen, ein Lernen und Nachahmen, ein Ausloten von Gemeinschaft
und Unterschied. Er gewöhnt sich an das Schlafen am Tag, das Wachsein
am Tag. Ich muss verstehen, dass er nachts nicht aufwacht, um mir den
Schlaf zu rauben, sondern weil ihn etwas plagt, seine Windel voll ist oder er
sich unwohl fühlt. Ich muss diese Situationen von ihm aus begreifen, nicht
von mir. Sobald ich auf meinem Selbst beharre, sage: Ich muss aber
schlafen, ich bin todmüde!, mich der Fürsorge teils wütend verweigere,
entsteht Schmerz. Mein Sohn fühlt sich verloren, allein, in seinen
Bedürfnissen nicht angenommen und ich muss viel Kraft aufwenden, um
meine Schutzmauer des Jetzt-Bin-Ich-Dran aufrechtzuerhalten. Sobald sie
fällt, bleibt nur Trauer. In solchen Momenten lerne ich, mein Selbst gehen zu
lassen, seinen Gefühlen Platz einzuräumen, auch wenn ich erschöpft bin.
Denn die Kraft habe ich, ich muss sie nur geben wollen.
Einige Wochen nach seiner Geburt gehen wir mit einer Freundin
spazieren und schildern ihr unseren Familienalltag. Zum Schluss fragt sie
konsterniert: Und was bekommt ihr von ihm, was tut er für euch? Er lernt zu
essen wie wir, zu sprechen wie wir, zu gehen wie wir. Ich finde, er strengt
sich an, um einen gemeinsamen Nenner mit den Erwachsenen zu finden,
sich ihre Welt zu erschließen, auch wenn es nicht immer sichtbar, über
einen längeren Zeitraum zu betrachten ist. Durch Corona bleiben meine
üblichen Designaufträge aus. Ich begreife diesen Ausnahmezustand als
Chance, mich auf uns als Familie und das Schreiben meiner Diplomarbeit
zu konzentrieren. Ich gebe alle Rituale, die mir in der Vergangenheit das
Schreiben ermöglichen sollten, auf und tue es einfach immer und überall.
Ich gehe mit meinem Sohn in der Tragehilfe spazieren und nutzte die
Sprachaufzeichnung meines Handys, um einen Text verfassen. Ich verharre
nicht mehr beim Geschriebenen, sondern befinde mich gleich in neuen
Situationen, die meine Aufmerksamkeit verlangen, wechsle Windeln, koche,
räume auf. Ich lerne das Geschriebene schnell loszulassen, mich über
kleine Fortschritte zu freuen. Meine Tage bestehen aus einem lückenlosen
Fluss von Ereignissen und Tätigkeiten. Ich beginne, jeden Abend zu
meditieren, um Ruhe in mir zu finden. Ich lese das Dao De Jing von Lao Tse,
erfahre vom Konzept des Wu Wei, der Ungeschäftigkeit, die nichts
unerledigt lässt, dem Handeln ohne Mühe. Im Nichtstun, im Meditieren legt
sich der Staub des Alltags, aufgewirbelte Gedanken, Sprachfetzen und ich
gewinne an Kraft.
Das Wichtigste, was ich von meinem Sohn gelernt habe, ist zu geben.
Ich kümmere mich um seine Bedürfnisse, ich bin da, wenn er mich braucht.
Mit ist egal, was ich dafür bekomme, ich tue es aus Liebe. Vielleicht ist das
Schreiben auch ein Geben, ein Lieben. Vater zu werden habe ich als eine
Intensivierung meines Lebens erfahren. Konflikte verstärkten sich,
Momente der Freude wurden zahlreicher, genauso wie Augenblicke der
Erschöpfung, der Zweifels, der Unsicherheit. Durch Überforderung habe ich
gelernt, mit Vertrauen den eigenen Weg zu gehen, die Gegenwart
wertzuschätzen und eine Ordnung in allen Dingen zu ahnen, die meinen
Weg zeichnet.
Wege
Bei einem Besuch bei meinen Eltern gehen wir gemeinsam im Moor
spazieren.
Auf dem Feldweg frage ich meinen Vater, wie er sich mit Mitte
dreißig gefühlt hätte. Damals verdiente er das Geld für die gesamte Familie
und wusste, dass er bald ein Haus würde bauen wollen. Das setzte ihn sehr
unter Druck.
Meine Partnerin und ich hatten eine Abmachung: Ich habe die
Freiheit, literarisches Schreiben zu studieren, während sie angestellt
arbeitet. Dafür kümmere ich mich um den Aufbau eines gemeinsamen
Studios für Text und Design. Mein Studienabschluss liegt nun schon ein
paar Monate zurück, doch ich kann mich kaum von der Vorstellung lösen,
einfach weiterzuschreiben, irgendein Stipendium zu erhalten, das mich
finanziert. Ich konzentriere mich nicht auf das Studio, aus Angst, den Pfad
des Schreibens zu verlassen.
Während meine Eltern ein Stück vor uns den
Kinderwagen über die unebenen Wege des Moors schieben, diskutiere ich
mit meiner Partnerin, warum ich nicht schon früher Schritte unternommen
habe, die uns voranbringen, ob ich denn nicht an die Idee eines
gemeinsamen Studios glauben würde? Ich schäme mich, komme mir vor
wie einer, der es sich in einem Traum bequem gemacht hat, anstatt tätig zu
werden.
Da ist sie wieder, die Angst, kein Schriftsteller mehr sein zu können,
sobald ich mich um das Studio, um etwas anderes, kümmere. Aus diesem
Für und Wieder will ich mich lösen. Ich weiß doch: Die Kunst, das Schreiben
bahnt sich von selbst einen Weg in mein Leben. Das Schreiben-Müssen
Rilkes würde ich gerne durch ein Schreiben-Zulassen, Sich-Dem-
Schreiben-Hingeben ersetzen, um endlich das Bild des Leiden
auslösenden, schicksalhaften Loses zurückzulassen und zu einem neuen
stärkenden Schreiben aufzubrechen.
Ich verteidige und rechtfertige mich, doch letztlich weiß ich, dass ich
das nur aus Angst tue, weil ich etwas beschützen möchte, was ich nicht
verlieren will. Ich kenne diese Angst. Dennoch bin ich unvorbereitet, wie
beim ersten Mal, wenn sie erscheint, mich lähmt, jeden klaren Gedanken
unterbindet. Ich kenne diese Angst, aber verstanden und ergründet habe
ich sie nicht. Immer aufs Neue lerne ich, meinen Widerstand aufzugeben
und so einen gemeinsamen Raum für uns als zusammenarbeitendes Paar
und Team zu schaffen.
Am kommenden Morgen bricht meine Partnerin zu ihrer Arbeitsstelle
in der Stadt auf. Meine Eltern verlassen mit dem Kleinen im Kinderwagen
das Haus, stapfen im Schneeregen davon. Ich klappe den Laptop auf und
beginne, zu arbeiten.
© Henrik Hillenbrand