Neu bewohnen

Ich muss jetzt mehr Raum einnehmen – sorry,
ich weiß, so war es nicht gedacht von euch,
dass ich den Raum einnehme, in mich aufnehme –
und vor allem: dass er bleibt.

Einnehmen sollte ich zunächst mal etwas anderes
und dann auch wieder abgeben, das war ok, um
mich wieder abgeben zu können
mit euch.

Aber – tut mir leid, vielleicht auch nicht – der Raum ist geblieben,
er bleibt vielleicht für immer
ich muss jetzt mehr Raum einnehmen,
ich darf

Jetzt
einen Raum gestalten wie noch nie, vielleicht wird er noch größer,
Denn Schokolade will ich essen,
Ohne Reue

Diesen Raum hat vor mir noch niemand
bewohnt.
Er hat weiße Wände und eine bunte Decke
Und
wenn man das Fenster öffnet, denn, ja, da ist ein Fenster! dann hört man die Vögel
Singen.

© Susanne D. Engling

Eine echte Mutter

Über Marguerite Andersens Ich, eine schlechte Mutter. Bekenntnisse


In unsentimentalem Ton beschreibt Marguerite Andersen, Schriftstellerin, Dozentin und Mutter von drei Kindern ihr Leben zwischen verschiedenen Welten.

Berlin, 1945. Marguerite ist eine lebenshungrige Zwanzigjährige. Als sie schwanger wird, geht sie mit ihrem Geliebten nach Tunis, in dessen Heimatstadt. Dort erlebt sie, was viele Frauen ihr Innerstes kostet: das Hausfrauendasein. Eingesperrt in eine kleine Wohnung, die Küche nicht mit im Haus, gekocht wird auf dem Gaskocher. Das Essen schmeckt nach Kerosin, Hemden wollen gewaschen, das Kind gewickelt, die Sickergrube geleert werden. Wenig später die zweite Schwangerschaft. Der Ehemann entwickelt gewalttätige Züge. Gegen sie, gegen die Kinder. Mutterschaft als ständige Opferbereitschaft des eigenen Selbst.
Andersen schafft es dennoch, sich Freiräume zurückzuerobern. Sie geht nach Berlin, beginnt ein Studium – zu einem hohen Preis: Mehrmals verliert sie eins der Kinder oder sogar beide an ihren Mann, das Scheidungsrecht steht auf seiner Seite. Erst 1963 finden Mutter und beide Söhne wieder zusammen.  

Wehen, Abtreibungsversuche, Doktorarbeit – alles gehört zusammen

Es geht darum „es irgendwie [zu] schaffen“. „Die Liebe“, „Drohungen“ „Das glückliche Leben“ – so und anders sind die kurzen Sequenzen überschrieben, durch die die Erzählerin ihre Geschichte vor den Leser*innen ausbreitet und die durch ihre Leerstellen einen großen Sog entfalten. Die Beschreibung von Wehen, Abtreibungsversuchen und Geburtsszenarien gehören dabei genauso zu Andersens Schilderungen wie das nächtliche Schreiben an ihrer Doktorarbeit oder die Suche nach einer neuen Anstellung; alles ist Teil eines Lebens.

Ich, eine schlechte Mutter ist untertitelt mit Bekenntnisse. Es ist ein Text über Fehler, unvermeidbare Unachtsamkeiten, verpasste Gelegenheiten – besonders in der Beziehung zu den beiden Söhnen und in dieser Hinsicht ist er einigermaßen schonungslos gegenüber sich selbst. Es ist der Versuch, etwas klar zu stellen, Abbitte zu leisten gegenüber den eigenen Kindern, die in manchen Situationen zurückstehen mussten. Denn schließlich ist das nicht das, was von einer „guten Mutter“ erwartet wird. Für eine „gute Mutter“ kommen die Kinder immer zuerst. Ihre Bedürfnisse sind die Bedürfnisse der anderen; die Mutter als Subjekt gibt es nicht. Bleibt die Frage, ob es nicht positiv für das Selbstverständnis von Kindern ist, ihre Mutter als jemanden mit eigenen Gedanken, Zielen, Fehlern und Wünschen zu erleben. Eine schlechte Mutter? Jedenfalls eine echte.

Von einer „guten Mutter“ wird auch heute noch erwartet, dass sie ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse zugunsten ihrer Kinder zurückstellt

Der Text spielt vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die die Frauen zwingt, Objekt zu werden, sich selbst und ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse zu verleugnen. Und ist es nicht das, was eine „gute Mutter“ auch in den Augen unserer gegenwärtigen Gesellschaft immer noch ausmacht? Dabei erhebt Andersen keine direkte Anklage gegen dieses System, das sie dazu zwingt, ihre Kinder zu vernachlässigen, wenn sie selbst nicht untergehen will.

Ich, eine schlechte Mutter ist ein Text, der von den alltäglichen Tätigkeiten handelt, die ein gleichberechtigtes Dasein beider Ehepartner*innen verhindern. Aber auch ein Text von einem unermüdlichen Streben nach vorne, dem Nicht-aufhören-Wollen in einer stillen, aber bestimmten Art, die gleichzeitig keinen Zweifel an der Liebe zu den eigenen Kindern lässt, aber eben auch nicht an der Liebe zu sich selbst.

In dieser Hinsicht ein höchst hoffnungsvoller und bestärkender, ein stiller und gerade deswegen besonders wichtiger Text über Emanzipation an ihrer schwächsten Stelle.

© Susanne D. Engling

Schön, aber nicht systemrelevant – Von Kindern, Kunst und Corona (Ausschnitt)

MÄRZ. ISOLATION

Der 16. März 2020 ist der erste Tag ohne Kita. Ich gehe mit meiner zweijährigen Tochter auf den Spielplatz. Ich weiß noch nicht, dass es das letzte Mal für gut acht Wochen sein wird. Die Stimmung unter den Erwachsenen ist seltsam aufgekratzt. Ständig werden Corona-Updates gecheckt. Man weiß nicht, was die nächsten Wochen und Monate bringen werden. Wie sehr werden die Kinder betroffen sein? Jeder Schritt ist ungewohnt. Alles ist noch viel zu neu.

Und dann, am nächsten Tag, sind wir zu Hause. Wir. Sind. Zu. Hause. Alle. Immer. Keine Großeltern. Keine Verabredungen. Kein Kino. Mein Partner schreibt an seiner Abschlussarbeit. Ich will auch schreiben. Wir versuchen es mit einem Plan; meist sind wir ganz gut im Planen. Ich mache eine Liste der Bücher, die ich lesen will. Ich will die Zeit nutzen.

Draußen ist es noch kalt. Ich bestelle Bücher und Spiele im Internet. Recherchiere nach Indoor-Aktivitäten. Der Kontakt, den wir zur Außenwelt haben, besteht in der wöchentlichen Lieferung der Biokiste. Darin: vor allem regionales Gemüse. Ich befürchte, es wird das ganze Jahr über Kohl geben.

Wir denken: Ein Laufrad wäre doch schön. Das denkt unsere Tochter nicht. Sie will draußen lieber getragen werden. Abends hopst sie stundenlang vom Sofa. Das Verhältnis zu den Nachbarn: angespannt.

Beim Spaziergang treffen wir eine Mutter mit ihrem Baby. Die Tochter strahlt. Sie geht neben dem Kinderwagen her und beginnt ein Gespräch mit Mutter und Kind, obwohl sie beide nicht kennt. „Ich will mit denen nach Hause gehen, Mama!“ Sie läuft hinter dem Wagen her und fängt an zu weinen, als ich erkläre, dass das nicht geht.

[…]

MAI. CARPE DIEM

Wenigstens das Wetter ist schön. Wir machen einen Plan. Mal wieder. Wann arbeite ich, wann mein Partner. Wann betreut er unsere Tochter, wann ich. Mein Brotjob ist weg. Meine Ideen auch. Schreibblockade? Totalblockade. Wenigstens die Abschlussarbeit ist abgegeben.

Wir lockern unsere Regeln. Eine befreundete Familie mit einem Kind als einziger Kontakt. T und L haben einen kleinen Sohn. Sie ist Fotografin, er Autor.

Die Kinder sind selig. Abends schlafen sie zusammen in einem Bett, wir sitzen bei Wein und Chips zusammen. T sagt: „Wenn ich noch einmal höre: Genießt die Zeit, fangt wieder an zu malen, macht Sport, lest das, was ihr immer aufgeschoben habt! – dann schreie ich. Ein guter Tag ist für mich, wenn ich morgens in Ruhe meinen Kaffee trinken kann.“

Ich schweige und denke an meine Bücherliste. Was habe ich in den letzten Wochen gelesen? Die Wettervorhersage fällt mir ein.

Unser Plan ändert sich wöchentlich. Kinder kann man nicht planen, Kunst auch nicht. Ich mag den Begriff „Kunst“ nicht sonderlich. In meinem Kopf klingt er zu sehr nach Werk, Schöpfung, Ewigkeit. Nicht gerade so, wie mein Schreiben sich für mich anfühlt. Das ist eher etwas Wandelbares, Fluides. Etwas, das leicht entgleitet und nie fertig ist.

Sei kreativ, sage ich mir und sehe auf die Uhr: noch 30 Minuten. Danach werde ich drei Stunden lang „Wir bringen den Teddy in die Kita“ spielen. Dann Abendessen. Dann Bett. Dann alles auf Anfang. Wann ist das hier vorbei? Ich lege meinen Kopf auf die Arme und schließe die Augen. Noch 29 Minuten. Was bedeutet Kinderhaben für den Zustand von schreibenden, musizierenden, filmenden, theatermachenden Menschen? Wahrscheinlich, dass die Dinge noch weniger fertig werden, als ohnehin schon. Was bedeutet Kinderhaben überhaupt für irgendeinen Zustand? Ich fühle mich depressiv. Ich bin die schlechteste Mutter der Welt.

Ich sehe eine Dokumentation über Margaret Atwood auf ARTE. Margaret Atwood sagt: Am Anfang ist es schwierig. Wenn die Kinder noch klein sind, kann man eigentlich nur arbeiten, wenn sie schlafen. Aber eigentlich auch dann nicht; dann schläft man selber.

Die Spielplätze öffnen wieder. Mann und Kind sind weg. Ich bin allein. Ich könnte jetzt arbeiten. Ich nehme mir einen Kaffee und setze mich auf den Balkon. Die Luft ist angenehm, das mache ich viel zu selten, denke ich. Da kommt mein schlechtes Gewissen, nimmt sich auch einen Kaffee und setzt sich dazu.

„Solltest du nicht was tun?“, sagt es.
„Verpiss dich“, sage ich.
„Noch zwei Stunden“, sagt es mit einem Blick auf die Uhr. „Wenn’s hoch kommt.“
„Sehr hilfreich“, sage ich. Den Lavendel könnte man auch mal gießen, denke ich und stehe auf, um Wasser zu holen.
„Weißt du, wie man das nennt?“, ruft mir das schlechte Gewissen nach. „Prokrastination!“

[…]

© Susanne D. Engling

Der gesamte Text erscheint voraussichtlich Anfang Mai 2021 im KHM-Magazin #1 Out of Time.