MÄRZ. ISOLATION
Der 16. März 2020 ist der erste Tag ohne Kita. Ich gehe mit meiner zweijährigen Tochter auf den Spielplatz. Ich weiß noch nicht, dass es das letzte Mal für gut acht Wochen sein wird. Die Stimmung unter den Erwachsenen ist seltsam aufgekratzt. Ständig werden Corona-Updates gecheckt. Man weiß nicht, was die nächsten Wochen und Monate bringen werden. Wie sehr werden die Kinder betroffen sein? Jeder Schritt ist ungewohnt. Alles ist noch viel zu neu.
Und dann, am nächsten Tag, sind wir zu Hause. Wir. Sind. Zu. Hause. Alle. Immer. Keine Großeltern. Keine Verabredungen. Kein Kino. Mein Partner schreibt an seiner Abschlussarbeit. Ich will auch schreiben. Wir versuchen es mit einem Plan; meist sind wir ganz gut im Planen. Ich mache eine Liste der Bücher, die ich lesen will. Ich will die Zeit nutzen.
Draußen ist es noch kalt. Ich bestelle Bücher und Spiele im Internet. Recherchiere nach Indoor-Aktivitäten. Der Kontakt, den wir zur Außenwelt haben, besteht in der wöchentlichen Lieferung der Biokiste. Darin: vor allem regionales Gemüse. Ich befürchte, es wird das ganze Jahr über Kohl geben.
Wir denken: Ein Laufrad wäre doch schön. Das denkt unsere Tochter nicht. Sie will draußen lieber getragen werden. Abends hopst sie stundenlang vom Sofa. Das Verhältnis zu den Nachbarn: angespannt.
Beim Spaziergang treffen wir eine Mutter mit ihrem Baby. Die Tochter strahlt. Sie geht neben dem Kinderwagen her und beginnt ein Gespräch mit Mutter und Kind, obwohl sie beide nicht kennt. „Ich will mit denen nach Hause gehen, Mama!“ Sie läuft hinter dem Wagen her und fängt an zu weinen, als ich erkläre, dass das nicht geht.
[…]
MAI. CARPE DIEM
Wenigstens das Wetter ist schön. Wir machen einen Plan. Mal wieder. Wann arbeite ich, wann mein Partner. Wann betreut er unsere Tochter, wann ich. Mein Brotjob ist weg. Meine Ideen auch. Schreibblockade? Totalblockade. Wenigstens die Abschlussarbeit ist abgegeben.
Wir lockern unsere Regeln. Eine befreundete Familie mit einem Kind als einziger Kontakt. T und L haben einen kleinen Sohn. Sie ist Fotografin, er Autor.
Die Kinder sind selig. Abends schlafen sie zusammen in einem Bett, wir sitzen bei Wein und Chips zusammen. T sagt: „Wenn ich noch einmal höre: Genießt die Zeit, fangt wieder an zu malen, macht Sport, lest das, was ihr immer aufgeschoben habt! – dann schreie ich. Ein guter Tag ist für mich, wenn ich morgens in Ruhe meinen Kaffee trinken kann.“
Ich schweige und denke an meine Bücherliste. Was habe ich in den letzten Wochen gelesen? Die Wettervorhersage fällt mir ein.
Unser Plan ändert sich wöchentlich. Kinder kann man nicht planen, Kunst auch nicht. Ich mag den Begriff „Kunst“ nicht sonderlich. In meinem Kopf klingt er zu sehr nach Werk, Schöpfung, Ewigkeit. Nicht gerade so, wie mein Schreiben sich für mich anfühlt. Das ist eher etwas Wandelbares, Fluides. Etwas, das leicht entgleitet und nie fertig ist.
Sei kreativ, sage ich mir und sehe auf die Uhr: noch 30 Minuten. Danach werde ich drei Stunden lang „Wir bringen den Teddy in die Kita“ spielen. Dann Abendessen. Dann Bett. Dann alles auf Anfang. Wann ist das hier vorbei? Ich lege meinen Kopf auf die Arme und schließe die Augen. Noch 29 Minuten. Was bedeutet Kinderhaben für den Zustand von schreibenden, musizierenden, filmenden, theatermachenden Menschen? Wahrscheinlich, dass die Dinge noch weniger fertig werden, als ohnehin schon. Was bedeutet Kinderhaben überhaupt für irgendeinen Zustand? Ich fühle mich depressiv. Ich bin die schlechteste Mutter der Welt.
Ich sehe eine Dokumentation über Margaret Atwood auf ARTE. Margaret Atwood sagt: Am Anfang ist es schwierig. Wenn die Kinder noch klein sind, kann man eigentlich nur arbeiten, wenn sie schlafen. Aber eigentlich auch dann nicht; dann schläft man selber.
Die Spielplätze öffnen wieder. Mann und Kind sind weg. Ich bin allein. Ich könnte jetzt arbeiten. Ich nehme mir einen Kaffee und setze mich auf den Balkon. Die Luft ist angenehm, das mache ich viel zu selten, denke ich. Da kommt mein schlechtes Gewissen, nimmt sich auch einen Kaffee und setzt sich dazu.
„Solltest du nicht was tun?“, sagt es.
„Verpiss dich“, sage ich.
„Noch zwei Stunden“, sagt es mit einem Blick auf die Uhr. „Wenn’s hoch kommt.“
„Sehr hilfreich“, sage ich. Den Lavendel könnte man auch mal gießen, denke ich und stehe auf, um Wasser zu holen.
„Weißt du, wie man das nennt?“, ruft mir das schlechte Gewissen nach. „Prokrastination!“
[…]
© Susanne D. Engling
Der gesamte Text erscheint voraussichtlich Anfang Mai 2021 im KHM-Magazin #1 Out of Time.